Stellungnahme des Verbands Deutscher Sinti&Roma, Landesverband Baden-Württemberg, 21. Juni 2018
Einschätzung der Äußerungen des italienischen Innenministers und stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini am 18.06.2018:
„Ich habe das Ministerium angewiesen, ein Dossier zur Roma-Frage in Italien anzulegen“, erklärte der italienische Innenminister Matteo Salvini am 18. Juni 2018 gegenüber dem TV-Sender TeleLombardia. Die „chaotische“ Lage verlange, so Salvini, zugleich stellvertretender Ministerpräsident Italiens, „wieder das tun, was früher Zählung genannt wurde“. Eine solche „Zählung“ könne auch „Personenregister“ oder „Momentaufnahme“ genannt werden. Das Ziel sei es, herauszufinden, „wer, wie und wie viele sie sind“ – sie bezeichnet hier die gesamte Minderheit der Roma, in den Augen des Ministers offenkundig eine fremde Gruppe von Menschen. Das angekündigte Vorhaben zielt keineswegs nur auf in den zurückliegenden Jahren aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien oder aus Rumänien nach Italien migrierte Roma und die sozialen Herausforderungen, die mit ihrer Integration verbunden sind. Die von Salvini geforderte „Zählung“ würde die Ausweisung von Ausländern ohne gültigen Aufenthaltsstatus ermöglichen, während man Roma mit italienischem Pass „unglücklicherweise behalten“ müsse, erklärte Salvini.
Diese Äußerungen haben internationale Aufmerksamkeit erregt und in der italienischen Politik Empörung ausgelöst. Die Bundesregierung hat diese Aussagen indirekt kritisiert. Auch die Union der jüdischen Gemeinden Italiens und die für die Bürgerrechte der Sinti und Roma in Italien eintretende Associazione 21 Luglio übten deutliche Kritik. Die Erinnerung an die faschistische Politik der systematischen Erfassung und Aussonderung, die zur Vorbereitung der Ermordung diente, wurde wachgerufen. Hingewiesen wurde vielfach darauf, dass statistische Erfassungen nach ethnischen Kriterien in Italien seit dem Ende des Faschismus verboten sind. Selbst Salvinis Kabinettskollege vom Koalitionspartner Cinque Stelle, Luigi Di Maio, ebenfalls stellvertretender Ministerpräsident, erklärte, der Plan sei „verfassungswidrig“.
In Reaktion auf die vehemente Kritik versuchte Salvini seine Aussagen zu entschärfen, ohne jedoch ihre Substanz zurückzunehmen. Es sei nicht geplant, digitale Fingerabdrücke aller in Italien lebenden Roma zu nehmen oder eine Roma-Kartei anzulegen. „Uns geht es besonders um die Kinder, die nicht regelmäßig zur Schule gehen dürfen, weil sie auf ein Leben der Kriminalität vorbereitet werden“, erklärte er nun. Wie sich dieses Ziel, von den verwendeten, empirisch nicht untermauerten Stereotypen völlig abgesehen, mit der vor allem anderen priorisierten Ausweisung von nicht-italienischen Roma vereinbaren lassen soll, bleibt unklar. „Wir wollen auch überprüfen, wie die Millionen Euro aus europäischen Kassen verwendet werden“, lautete eine zweite, erkennbar in Richtung Brüssel nachgeschobene Erläuterung zu den ursprünglichen Aussagen.
Keine Erklärung gab Salvini zu dem Sachverhalt ab, dass seine Politik der Zählung auch die ca. 50 Prozent der von der Associazione 21 Luglio auf insgesamt etwa 180.000 geschätzten Angehörigen der Minderheit in Italien betreffen soll, die italienische Staatsbürger sind – ihre Familien leben in der Regel seit Jahrhunderten in Italien.[1]
Man könnte diese Aussagen und diesen Plan für eine der vielen Provokationen halten, die in Zeiten des Populismus zur Regel werden. Auf ein kalkuliertes verbales Überschreiten von Grenzen folgt ein teilweiser Rückzug, die Skandalisierung wird als Missverständnis ausgegeben, am Kern der Aussagen jedoch wird festgehalten, die eigene Rolle als Sprachrohr der Ängste und Sorgen des „wahren“ Volks verteidigt.[2]
Allerdings ist mit diesen Äußerungen des italienischen Innenministers eine Grenze überschritten worden, deren Verletzung nicht ignoriert werden sollte. Es handelt sich nicht um irgendeine Regelverletzung, sondern um einen Angriff auf die Fundamente der europäischen und der deutschen politischen Kultur und Rechtsordnung.
1. Die eigenen Staatsbürger nach ethnischen Kriterien zu erfassen widerspricht dem europäischen Rechtsverständnis und den zivilisatorischen Grundlagen, die nach dem Ende der nationalsozialistischen und faschistischen Gewaltherrschaft gelegt wurden. Zählungen nach ethnischen oder, wie es vor 1945 hieß, „rassischen“ Gesichtspunkten waren häufig wiederkehrende Forderungen und Praktiken von Rassisten und Antisemiten, von der „Judenzählung“ im kaiserlichen deutschen Heer 1916 (die jedoch die Vorurteile der Antisemiten von den jüdischen „Drückebergern“ widerlegte) bis zur systematischen Erfassung der Juden sowie der Sinti und Roma im Deutschen Reich seit 1935 bzw. 1938.
2. Die rassistische Identifizierung und Aussonderung im NS, die von staatlichen und wissenschaftlichen Experten mit Unterstützung maßgeblicher Institutionen der deutschen Gesellschaft durchgeführt wurde, begründete nicht nur die Politik der massenhaften Vertreibung, Ausgrenzung, Beraubung, Enteignung und Entrechtung. Sie wurde kurze Zeit später zur notwendigen Voraussetzung der millionenfachen Inhaftierung, Deportation, Drangsalierung und Ermordung der deutschen und europäischen Juden, Sinti und Roma. Der Schritt von der systematischen, wissenschaftlich verkleideten Erfassung zur rassistischen Segregation und permanenten Diskriminierung, zu Berufsverboten und Zwangslagern sowie schließlich zu Verschleppung und Vernichtung geschah in zeitlich kurzer Abfolge und in einem logischen Zusammenhang. Das kann als gesicherte historische Erkenntnis gelten, die eine gewaltige Forschungsliteratur herausgearbeitet hat.
3. Die historische Erfahrung in Europa verbietet also jeden Gedanken der Erfassung einer Minderheit nach ethnischen Kriterien – im Fall des italienischen Innenministers verbunden mit eindeutig negativen Bildern von Kriminalität, sozialer Devianz, Bildungsfeindlichkeit und letztlich Integrationsunfähigkeit, die der Minderheit zugeschrieben werden. In diesem Fall handelt es sich nicht nur um ein Spiel mit dem rassistischen Feuer, es sind offenkundige Codes des Rassismus:
- Identifizierung und Homogenisierung einer ethnischen Minderheit, die in sich vielfältig ist, ohne Rücksicht auf Staatsbürgerschaft, individuelle Identitäten oder kulturelle Diversität – von außen auferlegte Ethnizität, angebliche kulturelle Eigenschaften einer letztlich biologisch definierten Gruppe (denn was lässt die angeblichen Kriminellen aus dem Ausland und sozial respektierte italienische Bürgerinnen und Bürger zu einer Gruppe verschmelzen?) überlagern alle Unterschiede und sogar die Frage der Staatsbürgerschaft;
- Zuschreibung negativer Eigenschaften und Charaktermerkmale für die gesamte so identifizierte Minderheit, und das durch einen führenden Politiker, ein Regierungsmitglied: Italiener, die Angehörige der Minderheit sind, könne man „leider“ oder „unglücklicherweise“ nicht abschieben – die Rede ist von italienischen Bürgerinnen und Bürgern, die in jeder Hinsicht Teil der italienischen Gesellschaft sind;
- Politik der systematischen Erfassung der negativ und als fremd definierten Minderheit, der sogar ihre nationale Zugehörigkeit, ihre Staatsbürgerschaft, ihr Italienischsein abgesprochen wird – spätestens an diesem Punkt schlagen Vorurteil und Ressentiment in eine offen rassistische Politik um, die eine deutliche Antwort erfordert.
5. Diese Einschätzung stützt sich nicht allein auf die umfassende historische, soziologische und psychologische Forschung zur Politik der Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus. Die Abfolge der Handlungsschritte (1) Identifizierung einer negativ definierten Minderheit, (2) systematische Erfassung der Minderheit bei zunehmender negativer Stereotypisierung in der Öffentlichkeit, durch Medien und Regierungsstellen, und (3) die Darstellung der so gebrandmarkten Minderheit als Gefahr, Bedrohung und Sicherheitsrisiko sind in der vergleichenden Genozidforschung als allgemeine Merkmale genozidaler Politik und in allen Fällen – von NS-Deutschland über Ruanda bis zum ehemaligen Jugoslawien – anzutreffende Voraussetzungen und Vorstufen von „ethnischer Säuberung“ und Völkermord herausgearbeitet worden.[3]
6. Die rassistische Dimension dieser Aussagen und Ankündigungen wird noch deutlicher, wenn über die Möglichkeiten ihrer praktischen Umsetzung nachgedacht wird. Wie soll diese „Zählung“ stattfinden? Sollen alle der über 60 Millionen in Italien lebenden Menschen unterschiedslos befragt werden, ob sie Roma sind? Sollen Roma sich selbst identifizieren und melden? Beide Wege scheinen undenkbar. Bleibt also der Einsatz von staatlichen Fachleuten, von kriminalistischen, sozialpolitischen oder anderen Experten, die die Roma identifizieren und zählen müssten. Nach welchen Kriterien, auf welcher Grundlage? Der Unterschied zu den „rassebiologischen“ Experten des Nationalsozialismus würde spätestens an diesem Punkt verwischt; eine zivilisatorische Grenze, deren Überschreitung in Europa nach 1945 nicht mehr für möglich gehalten wurde, wäre verletzt; die fundamentale Differenz zwischen dem Europa von heute und dem rassistischen Europa unter der NS-Diktatur wäre fortan weniger deutlich, als sie es bisher war.
7. Die deutsche und die europäische politische Kultur und Rechtsordnung würden dauerhaften Schaden nehmen, wenn nach Aussagen und Plänen europäischer Spitzenpolitiker, die sich in ein Kontinuum rassistischer – und rein analytisch betrachtet, mutmaßlich und hoffentlich jedoch nicht intentional, sogar genozidaler – Politik einordnen lassen, einfach zur Tagesordnung übergegangen oder die vermeintliche Provokation ignoriert würde. Es gehört zu den Grundrechten europäischer Bürgerinnen und Bürger, als Staatsbürger betrachtet und behandelt, geachtet und geschützt zu werden. Es ist ein Grundrecht und Ausdruck der menschlichen Würde, sich als Angehöriger einer Minderheit zu verstehen oder es nicht zu tun, ohne dass staatliche Organe in irgendeiner Weise darauf Einfluss nehmen oder den jedem Individuum als Individuum zukommenden Menschenrechten zwangsweise durch die Verordnung einer kollektiven Identität Gewalt antun.
8. Entschlossene Gegenmaßnahmen müssen erfolgen, und beraten werden sollte jetzt auch über die politische, kulturelle und intellektuelle Prävention künftiger solcher Verletzungen des antirassistischen Konsenses, auf dem Europa beruht, durch führende Politiker und nationale Regierungen.
[1] Vgl. etwa https://www.nytimes.com/aponline/2018/06/18/world/europe/ap-eu-italy-roma.html; https://edition.cnn.com/2018/06/19/europe/salvini-roma-census-italy-interior-minister-intl/index.html; http://www.sueddeutsche.de/politik/italien-matteo-salvini-roma-zaehlen-1.4022134; http://www.sueddeutsche.de/politik/roma-zaehlung-in-italien-salvini-der-mann-fuer-die-niederen-instinkte-1.4022430; http://www.tagesschau.de/ausland/salvini-roma-101.html; https://www.welt.de/politik/ausland/article177798872/Personenregister-geplant-Italiens-Innenminister-Salvini-will-Sinti-und-Roma-zaehlen-lassen.html; http://www.spiegel.de/politik/ausland/italiens-salvini-gegen-sinti-und-roma-lautes-geschrei-kaltes-kalkuel-a-1213813.html.
[2] Vgl. als erste wissenschaftliche Analysen des jüngsten Populismus etwa Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016; Dirk Jörke/Veith Selk, Theorien des Populismus zur Einführung, Hamburg 2017.
[3] Vgl. etwa Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg 2007.
Stellungnahme zum Download: Ausführliche Stellungnahme zu den antiziganistischen Äußerungen von Salvini_