Analyse: Neue rechte Terrorwelle. Ist auch die Rhein-Neckar-Region bedroht?
Der Begriff des “Schläfers” fand vor einigen Jahren in Zusammenhang mit islamistisch motiviertem Terror Popularität und wurde viel diskutiert. Allerdings erinnerten die damit verbundenen Bilder eher an Agentenkrimis. Personen, die jahre- oder gar jahrzehntelang ein unauffälliges Leben führen und dann plötzlich – scheinbar auf Knopfdruck – , zur Killermaschine mutieren.
Die romantische Verklärung solcher an Spionagekrimis angelehnten Vorstellungen führt zum Problem, dass einfach gestrickten, weniger professionellen Akteuren, kein hohes Bedrohungspotential zugetraut wird. Aber genau diese Tätergruppe ist aktuell das größte Problem.
Weniger Organisierung, mehr individuelle Motivation
Gewissermaßen ist der islamistisch motivierte Terror die Blaupause für das, was wir zur Zeit an neuen rechten Terroraktivitäten beobachten müssen. Nach den Anschlägen des 11. September 2001 änderte sich viel. Die Geheimdienste wurden besser. Die Verlagerung der Kommunikation ins digitale brachte Erfolge bei der Überwachung. Folglich wurden potentielle islamistische Attentäter*innen immer vorsichtiger bei ihrer Organisierung. Die Strukturen dezentralisierten sich.
Die großen Anschläge der letzten Jahre wurde fast alle von kleinen, unabhängigen Zellen, teils Einzeltätern, verübt, die lediglich ideologisch an die großen Netzwerke, wie Daesh (IS) oder Al Quaida angeschlossen waren. Die Nachrichtenmeldungen lasen sich dann meist: „IS reklamiert Anschlag für sich“. Eine tatsächliche organisatorische Verantwortung kann selten nachgewiesen werden – weil es sie nicht gibt. Die großen Organisationen liefern die ideologische Grundlage. Die Ausführung wird von unabhängigen Kleingruppen oder Individuen vollzogen, meist ohne konkrete Absprache oder gar völlig ohne Kenntnis der vermeintlichen Dachorganisation.
Deutliche Parallelen zwischen islamistischem und rechtem Terror
Das persönliche gegenseitige Kennen von „Scharfmachern“ der großen Organisationen auf der einen und den ausführenden Personen auf der anderen Seite ist gar nicht erforderlich. Im Bereich des islamistischen Terrors geht es darum, Angst und Schrecken zu verbreiten und maximalen Schaden anzurichten. Tiefere strategische Ziele, wie beispielsweise die Umsetzung spezieller Forderungen oder das Freipressen von Gefangenen gibt es (zumindest in Europa) nicht.
Hier wird deutlich, dass bei allen kulturellen Unterschieden doch große Parallelen zu den Strategien des politisch rechten Terrorismus bestehen.
Militante rechte Politik in Deutschland verfolgt ebenfalls die Strategie der Einschüchterung. Die Betroffenen – politische Gegner*innen oder Menschen, die als „fremd“ oder „undeutsch“ angesehen werden – können dabei wahllos ins Visier genommen werden. Es geht um Kollektivstrafe und das Vermitteln von „es kann jeden treffen“.
Die Anschläge des NSU sind dafür Musterbeispiele. Zu den ermordeten Migrant*innen gab es keinerlei Bezug. Sie wurden lediglich ausgewählt, weil sie bei den Rechten als „undeutsch“ galten. Ihre Ermordung sollte die deutliche Botschaft vermitteln: „Migrant*innen in Deutschland müssen um ihr Leben fürchten – besser sie verlassen das Land“
Wenn wir uns Beispiele rechter Terroranschläge in den letzten Jahren ansehen, verfolgen diese stets die Taktik der Einschüchterung bei scheinbar zufällig ausgewählten Opfern und damit die Botschaft „Es kann jeden treffen“.
- Die Morde des NSU sind der deutlichste Ausdruck dieser Strategie gegen Migrant*innen. Ausnahme bildet lediglich der Mord an der Polizistin Michelle Kiesewetter, der möglicherweise komplexere Gründe hatte, aber bis heute nicht öffentlich aufgeklärt wurde. Die Sprengstoffanschläge des NSU gehen in die selbe Richtung mit der Ausweitung der Opfergruppe auf einen ganzen Straßenzug, der in der rechten Szene als „islamisiert“ oder „undeutsch“ (Mythos „Umvolkung“) wahrgenommen wird.
- Anders Behring Breivik ermordete 2011 in Oslo und Utøya 77 Menschen. Er stellte sich heroisch als „Einzelkämpfer“ dar und veröffentlichte ein neurechtes Manifest. Die Auswahl der Opfer erfolgte aus islamfeindlichen Motiven. Es traf vor allem politisch Andersdenkende, darunter viele Kinder und Jugendliche. Breivik kann als Wegbereiter eines modernen, individualisierten Rechtsterrorismus angesehen werden. Es gab bereits zahlreiche Nachahmer, beispielsweise beim Anschlag von David S. in München 2016 mit neun Toten und beim Anschlag von Brenton T. in Christchurch 2019 mit 51 Toten.
- Die Anschläge der Gruppe Freital (2015) in Sachsen richteten sich gegen vermeintliche „Ausländer“, Flüchtlingshelfer*innen und einen Politiker der Linken. Diese wurden mit selbstgebauten Sprengsätzen angegriffen. Ähnliches soll die Kleingruppe mit dem Namen „Revolution Chemnitz“ geplant haben.
- Der Nazi Stephan Ernst ermordete mutmaßlich den CDU Politiker Walter Lübcke wegen seiner Äußerungen zum Thema Flüchtlinge. Gegen Ernst wird auch wegen eines versuchten Mordes an einem Flüchtling ermittelt. Ein bislang Unbekannter hatte dem Flüchtling aufgelauert und von hinten mit einem Messer zugestochen.
- Roland K. schoss in Wächtersbach (Hessen) auf einen offenbar zufällig wegen seiner Hautfarbe ausgewählten Flüchtling, der dank einer Notoperation überlebte. Danach tötete sich K. selbst. Frustration und Rassismus werden als Motive der Tat vermutet. Auch das Datum, ebenfalls der Jahrestag der Oslo-Utøya-Anschläge, dürfte kein Zufall sein.
- Neben den tatsächlich stattgefundenen Gewalttaten gibt es zahllose Beispiele von Drohungen, die bei vergleichsweise geringem Risiko und Aufwand die selbe Strategie der Einschüchterung verfolgen. So waren neben Politiker*innen in den letzten Wochen vor allem Moscheen das Ziel von Bombendrohungen, u.a. die Yavuz-Sultan-Selim-Moschee in Mannheim. Der Versand von Morddrohungen an politisch unliebsame Menschen, unterschrieben mit „NSU 2.0“, über Polizeicomputer, zeigt, dass die Strategie der Einschüchterung bis in Polizeikreise hinein verfolgt wird.
Individuelle Radikalisierung durch die neue Rechte
Die oben skizzierten organisatorischen Veränderungen im islamistischen Terror waren nicht Folge einer selbstgewählten strategischen Überlegung der Islamist*innen. Es war ein pragmatischer Umgang mit der immer besseren Überwachung durch die Geheimdienste. In Kombination mit der simplen Strategie des größtmöglichen Schadens war die Dezentralisierung und Individualisierung logische Folge.
Der rechte Terror zieht nun nach. Die politische Rechte ist grundsätzlich der gleichen Problematik der Überwachung ausgesetzt, auch wenn es viel politischen Druck gebraucht hat, die Geheimdienste in diese Richtung zu bewegen (und wir wissen auch, dass die Überwachung der rechten Szene immer noch deutlich schlechter funktioniert, als bei anderen Szenen).
Verfassungsschutz-Chef Haldenwang warnte in einer aktuellen Sitzung des Innenausschusses vor einer „neuen Dynamik des Rechtsextremismus“. Das berichtet der „Spiegel“. Eine Emotionalisierung der Debatten, die Postings im Netz als Grundlage haben, führe zu einer angespannten Sicherheitslage. „Schwerste Gewaltstraftaten durch Einzeltäter oder Kleinstgruppen, auch die Bildung terroristischer Gruppen innerhalb des rechten Spektrums, müssen in Betracht gezogen werden.“ meint BKA Chef Münch.
Die sozialen Medien und der Erfolg der AfD funktionieren als Katalysator. Die Einbindung der Täter*innen in feste Strukturen ist nicht erforderlich. Im Gegenteil scheinen viele (aber nicht alle) Gewalttäter*innen individualisiert und vereinzelt zu leben und zu handeln.
Ein neuer Tätertyp?
Stephan Ernst, mutmaßlicher Mörder von Walter Lübcke, könnte als Muster dieses neuen Tätertyps herangezogen werden. Er wurde in den 90er Jahren, in den damals von Militanz geprägten Auseinandersetzungen sozialisiert, in denen auch die NSU-Hauptakteure Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt groß wurden. Die NPD war vor allem bei Jugendlichen einflussreich und radikalisierte eine ganze Generation rechter Skinheads. Auch Nazimusik war damals erfolgreicher, radikaler und weiter verbreitet als heute und stachelte teils offen zum politischen Mord auf. Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und körperliche Angriffe auf politische Gegner*innen und Punks waren keine Ausnahmen sondern prägten den Alltag dieser Jugend. In dieser Szene radikalisierte sich der damals junge Stephan Ernst.
Anfang der 2000er Jahre ging die rechte (Skinhead-)Bewegung den Bach hinunter. Immer weniger Nachwuchs, Prozesse mit teils hohen Strafen und Verbote ganzer Organisationen oder auch Bands machten der Szene zu schaffen. Auch die Gesellschaft veränderte sich mit der damaligen rot-grünen Bundesregierung und der Entwicklung der EU: Sie wurde offener, modernen und liberaler. Konservative Politik geriet in die Defensive.
Viele Rechte zogen sich ins Private zurück. Die Jugendlichen der 90er Jahre waren altersbedingt vermutlich sowieso mit Job und Familie beschäftigt, was sein übriges dazu beigetragen haben müsste. Freie Kameradschaften und die NPD erlebten einen regelrechten Niedergang. Rechte Gewalttaten hörten zwar nicht auf, sie wurden aber deutlich weniger.
Doch die Nazis waren weder verschwunden, noch hatten sie alle ihrer Gesinnung abgeschworen.
Die Diskussion um Geflüchtete ab 2015, das Erstarken der AfD als Sammelbewegung und neue Großevents, wie beispielsweise die „HOGESA“ Hooligan-Demonstrationen erzeugten in ganz Deutschland eine Reaktivierung der „alten Garde“. Der Begriff der „Schläfer“ ist somit gar nicht falsch gewählt.
Gibt es die „Schläfer“ auch in Mannheim und der Rhein-Neckar-Region?
Ja und wir haben die ganzen Jahre ein Mahnmal vor unserer Nase sitzen. Wie kaum ein anderer repräsentiert der Ex-Stadtrat Christian Hehl diese Szene. Politisiert in einer selbstbewussten, militanten rechten Szene der 80er und 90er Jahre, fiel es ihm ab den 2000er Jahren immer schwerer, seine Anhänger*innen zu mobilisieren. Mehr durch glückliche Umstände, als durch persönliche Kompetenz, landete er 2014 als Relikt aus der Vergangenheit für die NPD im Gemeinderat und gab dort eine traurige, von Alkohol, Drogen und gesundheitlichen Problemen gezeichnete Figur ab, die vor allem eines zu sein schien: einsam.
Christian Hehl ist mit seiner Popularität eine Ausnahme. Die meisten seiner Generation – und davon gibt es nicht wenige – sind keine öffentlich bekannten Persönlichkeiten. Manche findet man samstags im Block der alten Herren in den Fußballstadien. Sie hatten ihre wilden Jahre. Es gab Prozesse, Geld- und Haftstrafen, beispielsweise gegen Mitglieder der Mannheimer Band Tonstörung, die in ihren Texten offen zum Mord an Juden aufgerufen hatten. Die mittlerweile gealterten Männer und Frauen leben weiterhin in den Stadtteilen und Vororten mit ihren Familien und gehen meist einem unauffälligem Leben nach.
Aber sind sie ungefährlich? Manche werden ihrer Ideologie endgültig abgeschworen haben und ihre Nazi-Vergangenheit als Jugendsünde bezeichnen. Andere werden sich seit 2015 wieder im Aufwind sehen. Mit der AfD hat eine rechte Partei nun endlich den Erfolg, der der NPD nie vergönnt war. In Kombination mit einer inkompetenten social media Nutzung kann schnell der übertriebene Eindruck eines rechten gesellschaftlichen Aufbruchs entstehen. Deshalb bereiten sich immer mehr Rechte auf einen „Tag X“ vor, den vermeintlichen Beginn einer Revolution. Viele Polizist*innen und Bundeswehrangehörige sollen unter denen sein, die so denken. Manche horten Waffen, Munition und Vorräte, sammeln Adressdaten und führen „Feindeslisten“.
Ungefährlich ist das alles sicher nicht. Das beweisen die rechten Terroranschläge der letzten Monate und Jahre. Aber einfach ist der Umgang mit den „Schläfern“, die am aufwachen sind, leider auch nicht.
(cki)