Landtagswahl 2016: Die AfD profitiert vom Niedergang der gesellschaftlichen Gerechtigkeit. Dieser Niedergang muss umgekehrt werden.

Die Wahlergebnisse

Es gibt ja schon eine Flut von Kommentaren zum Ausgang der Landtagswahl(en) am 13. März. Trotzdem sei ein weiterer gestattet.

Zunächst gilt es festzuhalten, dass es Mannheim mal wieder in die bundesweiten Schlagzeilen gebracht hat mit einem von zwei AfD-Direktmandaten im Lande. 0,8 Prozentpunkte fehlten dem SPD-Bewerber der SPD, Dr. Stefan Fulst-Blei, um das Direktmandat wieder für sich zu sichern. Unermüdlich warnte er die Wählerinnen und Wähler, keine Partei zu wählen, deren Stimmen dann verloren seien. Er meinte die Linke. Geholfen hat die Taktik der SPD nicht. Sie hat ein massives programmatisches und jetzt auch Stimmenproblem: Sie liegt landesweit mit 12,7% hinter der AfD (15,1%). In Gesamt-Mannheim liegt die SPD mit 19,2% 103 Stimmen hinter der CDU., die ihrerseits gegenüber vor zehn Jahren im Prozentanteil fast halbiert ist.

Auch die Linke hat ein Problem: Sie hat es deutlich wieder nicht geschafft. Sie hält sich landesweit hartnäckig im 3-Prozent-Bereich. Die Kraft in den Städten kann die Schwäche bzw. das Nichtvorhandensein in der Fläche immer noch nicht ausgleichen bzw. sie kommt in der Fläche nicht voran. In Mannheim nimmt ihre Stimmenzahl seit 10 Jahren (2006 noch als WASG) im Schneckentempo zu – immerhin, aber sie bleibt unter ihren Möglichkeiten.
Grafik 1 Landtagswahl 2016 - DIE LINKE

Grafik 2 Landtagswahl 2016 - DIE LINKE

Die Grünen dieseits des Rheins haben scheinbar nur das Problem des Kopfscherzes beim Durch-die-Decke-Stoßen, jenseits des Rheins sind sie gerade noch so wieder in den Landtag gekommen, aber gedrittelt. Vielleicht haben aber viele Grüne Wählerinnen und Wähler in Baden-Württemberg jetzt ein Problem: Eine absehbare Koalition mit der „heiß geliebten“ CDU, vielleicht aber auch nur manche. – Ja, und dann ist da noch die AfD. Das einzig Positive ist die gestiegene Wahlbeteiligung, wenn auch die AfD die größte Zahl der bisherigen NichtwählerInnen mobilisieren konnte, 200.000 mehr als beispielsweise Die Linke.

Alle Kommentare sind sich einig: Die Flüchtlingspolitik dominierte die drei Landtagswahlen vollständig, und trotzdem ist es nicht einfach zu verstehen, was hier passiert ist. Plötzlich seien die Wähler massenhaft nach Rechts gegangen. Davon wird unten noch zu reden sein.

Grafik Tagesschau.de

 

Mannheim in den Schlagzeilen

Die Schlagzeilen zum AfD-Ergebnis in Mannheim hat diese Stadt übrigens nicht verdient. Denn ebenso schlagzeilenträchtig wäre die Demonstration der 12.000 Menschen unter der Losung „Mannheim sagt JA“ vor gut einem Jahr gewesen. Schlagzeilenträchtig könnte auch die Tatsache sein, dass Mannheim zeitweise über 12.000 Geflüchtete in LEA und BEA aufnahm (zurzeit sind es ca. 7.500) und dass Mannheim für den süddeutschen Raum der bayerischen Landeshauptstadt München und ihrem Hauptbahnhof über Monate Nacht für Nacht die Funktion als „Drehscheibe“ für oft hunderte frisch eingereiste Geflüchtete abnahm. Hunderte von Freiwilligen helfen seither in vielfältigster Weise, und auch viele beruflich Eingesetzte arbeiten weit über ihr eigentliches Soll hinaus – wie das ja auch an vielen andern Orten der Republik ähnlich der Fall ist. Das Wahlergebnis bildet die Zahl derer ab, die „dagegen sind“. Sie sammelten sich in der neuen AfD, knapp 2 Prozent auch bei der ALFA und den Nazi- bzw. rechtsradikalen Parteien NPD und REP. Aber 83% der Wählenden haben trotz der polarisierten Situation in der Heimlichkeit der Kabine ihr Kreuz eben nicht dort gemacht; sie verteilen sich auf viele Parteien.

Der Rechtstrend

Nun wird viel gestritten, wie man die allein in Baden-Württemberg 809.000 AfD-Wählenden einzuschätzen hat: Nazis, Nazis light oder mehrheitlich „nur besorgte BügerInnen“?

Der Linken-Bundesvorsitzende und baden-württembergische Spitzenkandidat Bernd Riexinger schreibt nach der Wahl in einem Brief an seine Mitglieder:

„Es muss uns und den Gewerkschaften zu denken geben, dass über15 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder AfD gewählt haben, obwohl diese Partei ein gewerkschaftsfeindliches Programm hat. Uns haben dagegen gerade mal 4,5 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder gewählt, obwohl wir ein gewerkschaftsfreundliches Programm haben und mit einem Gewerkschafter als Spitzenkandidat angetreten sind. (…) Das Wahlergebnis der AFD bedeutet ohne Zweifel eine Zäsur in Deutschland. Schon bei den Kommunalwahlen in Hessen hat sich diese Entwicklung angedeutet. Der Wahlerfolg der AfD ist alarmierend. Sie tritt offen rassistisch auf, hat ein antisoziales Programm und vertritt ein erzreaktionäres Frauen- und Familienbild. Leider ist es jedoch auch so, dass viele Menschen, deren soziale Lage sich nicht verbessert hat oder die Angst vor sozialem Abstieg haben, Rechts gewählt haben. Sie haben mit ihrer Stimme den etablierten Parteien einen Denkzettel verpasst und im besonderen Ausmaß die Parteien der großen Koalition abgestraft. Diese Menschen sind nicht alle rassistisch oder rechts national, aber sie nehmen bewusst oder unbewusst in Kauf, dass damit eine rassistische und rechtspopulistische Partei gestärkt wird. Uns ist es nicht gelungen, den antisozialen Charakter der AfD deutlich zu machen.“

Man muss wohl einen großen Schritt hinter die Parteibindung und oder Wahlentscheidung zurückgehen in den Bereich von „Haltungen“ und Grundüberzeugungen, um zu erfassen, welche Tendenzen hinter den Wahlergebnissen stehen. Zu schnelle Etikettierungen helfen da nicht weiter, z.B. das Gegensatzpaar „Flüchtlingsfreund“ und „Flüchtlingsgegner“. Niemand fällt als solcher vom Himmel. Außerdem gilt es zu klären, was hinter dem Phänomen der scheinbaren politischen Mutation von Angela Merkel steckt.

Vielleicht bietet folgender Blickwinkel ergänzend zu den zahlreichen in diesen Tagen angestellten Betrachtungen weiteren Aufschluss über die „Rechtsverschiebung“:

Gehen wir einmal davon aus, dass in unserer, aber auch sehr viel anderen Gesellschaften auf die Frage: „Wie können wir in Wohlstand und Sicherheit leben?“, zwei sehr divergierende Antwortrichtungen miteinander konkurrieren: Eine isolationistische, tendenziell völkische Richtung auf dem Fundament der Dominanz einerseits und eine auf gesellschaftlichen und internationalen Interessenausgleich orientierte zivilgesellschaftliche Antwortrichtung auf dem Fundament von Gerechtigkeit. Beide Richtungen tragen zur Parteibildung bei, gehen aber auch unterschiedlich stark durch politische Parteien parallel hindurch und sorgen für Flügelbildung. In diesem Zusammenhang sei auch an die Untersuchungen von Heitmeyer erinnert, der nationalistische Auffassungen in nicht unerheblichen Teilen der Anhängerschaft des eher linken Parteienspektrums und der Gewerkschaften nachwies.

Wie wirken sich nun die Fluchtbewegungen auf die zwei „Antwortrichtungen“ aus? Die isolationistische bis völkische Richtung nimmt die Fluchtbewegungen als etwas ausschließlich von außen Hereindringendes wahr unter vollkommener Kappung historischer Ursachen, die auf das eigene Land zurückweisen. Ergänzt wird das durch die Intensivierung ahistorischer romantischer Träumereien von Wohlstand und Sicherheit in angeblich monoethnischen Zuständen früherer Zeiten, die wieder hergestellt werden müssen. Was sonst der NPD vorbehalten war, braut sich jetzt in der Mitte der Gesellschaft in Form der AfD zusammen.

Von Deckeln und Ressourcen

Voraussetzung ist die irrige Auffassung, dass die Ressourcen des Gemeinwesens und damit auch die Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft z.B. für Geflüchtete eindeutig begrenzt seien. Diese These ist in der ganzen Flüchtlingsdiskussion die beherrschende: Von der bangen Frage „Aber wir können doch nicht jährlich 1 Million Menschen aufnehmen?“ über die Forderung „Deckelung und Begrenzung“ des Zuzugs bis zu der lapidaren Feststellung „das Boot ist voll“ und dem Schlachtruf „Deutschland den Deutschen!“, „Wir schieben ab!“ (NPD).

Diese nicht im mindesten in Frage gestellte angebliche Begrenztheit und Statik der zur mobilisierbaren Ressourcen radikalisiert das gesamte bürgerlich rechte Spektrum einschließlich Teilen der Nichtwählerschaft und führt zur Auffüllung der AfD.

Aber auch das zivilgesellschaftliche Spektrum gerät unter Druck, denn das Fundament einer auch nur annähernden gesellschaftlichen Gerechtigkeit ist inzwischen morsch. Stattdessen hat sich eine bis dato nicht gekannte Reichtumsblase vom Rest der Gesellschaft abgesetzt und okkupiert die finanziellen Ressourcen, die bei der Bewältigung der Fluchtbewegung im Inland wie auch z.B. für die UN notwendig wären. Der einstige wie auch immer im Einzelnen zu bewertende „Klassenkompromiss“ ist spätestens seit Schröder aufgekündigt – finanz- wie auch sozialpolitisch. Obszöner Reichtum einerseits, Sanktionsregime gegen Langzeitarbeitslose andererseits. Dazwischen die Wohnungskrise und fehlende Mittel z.B. für Herstellung der Bildungsgerechtigkeit.

Gerechtigkeit?

Wer hat im Landtagswahlkampf diese Diskrepanz thematisiert? Leider einzig die Linke. Sie hat dies jedoch weit überwiegend nur durch die bekannten sozialen Forderungen unter dem Motto: „Das muss drin sein“ formuliert. Diese erwecken zweifellos Sympathie. Diese Sympatahie war für die WahlkämpferInnen durchaus spürbar. Aber diese Forderungen für sich erwecken auch Unglauben. Wie will die Linke das denn durchsetzen. Über die dringend notwendige Rückführung von aus der Gesellschaft kommenden Ressourcen zurück in die Gesellschaft hat auch die Linke zu wenig gesprochen. Somit konnte auch die Deckel-Diskussion nicht wirklich gekontert werden.

Die SPD führte unter Nils Schmid einen blamablen Tanz um das Goldene Kalb der Schwarzen Null, besser um das Schwarze Kalb der Goldenen Null auf. Die wenigen „Wohltaten“, wie den Verzicht auf die Senkung der Lehrerzahl , verdankte sie den aktuellen konjunkturell bedingten Steuerzuwächsen. Sie hat zum grundlegenden Thema Gerechtigkeit nichts mehr zu bieten. Wahrlich kein Grund zur Freude.

Angela Merkel erregte staunende Aufmerksamkeit und Sympathie im zivilgesellschaftlichen Lager, weil sie die „Höchstgrenze“ und damit den Bruch der Verfassung und des Völkerrechts verweigerte. Sie verweigert aber auch bis auf geringfügige Zuschüsse an die Kommunen die Ressourcen, mit denen wir das das schaffen. Damit zog und zieht sie auch regelrechte Wut auf sich – nicht nur aus dem rechten Lager. Und mit ihrem brachialen außenpolitischen Kurs entzaubert sie sich gleichzeitig selbst. Gegenteilig der Landesmeister bzw. -vater Kretschmann: Er sonnt sich im zivilgesellschaftlichen Lager und gewährt den Isolationisten und Völkischen weiteres Abbruchwerkzeug für das Asylrecht.

Dass dieser grundlegenden „Verwirrung“, die schon an einen Maskenball erinnert, die Erosion der Volksparteien folgt, die Gleichzeitigkeit grüner Höhenflüge und Höllenfahrten und die Abwanderung nennenswerter Wählerschichten zur AfD, das braucht nicht mehr zu wundern. Die Gesellschaft ist aus den Fugen. Der Niedergang der gesellschaftlichen Gerechtigkeit muss umgekehrt werden.

Stadtrat Thomas Trüper (DIE LINKE)