Kommentar: Die Türkei vor den Wahlen – Eine kritische Bestandsaufnahme deutsch-türkischer Beziehungen und Informationen über den Wahlkampf
Die Mannheimer Initiative „Nein zum Krieg – Solidarität mit Afrin“ lud am 30.05.18 zu einer Vortragsveranstaltung mit Gökay Akbulut (MdB Die Linke und Stadträtin in Mannheim) und der HDP-Abgeordneten im Exil Nürsel Aydogan ins Bürgerhaus Neckarstadt-West ein. Anstelle von Frau Aydogan, die wegen eines Terminkonflikts absagen musste, sprach die in Mannheim lebende Fatos Göksungur, HDP-Koordinatorin für Europa und Deutschland, zu rund 20 VortragsteilnehmerInnen.
EU-Partner Türkei befindet sich einen Schritt entfernt vor der Bildung einer islamistisch-faschistischen Feudalherrschaft
Die Begrüßung der Gäste erfolgte durch Roland Schuster, Sprecher der Initiative „Nein zum Krieg – Solidarität mit Afrin“ in Mannheim. Selbstkritisch stellte er fest, dass die Bewerbung der Veranstaltung mangelhaft erfolgte. „Die Kommunikation innerhalb der Initiative hätte deutlich besser sein müssen. Viele Partner der Initiative seien derzeit wegen des Wahlkampfes in der Türkei ressourcen-technisch anderweitig gebunden.“
Gökay Akbulut informierte über die Gründung der Initiative in Mannheim und deren Wunsch nach der Vortragsveranstaltung.
Die Türkei befindet sich seit längerer Zeit in einer immer weiter anschwellenden wirtschaftlich- und gesellschaftspolitischen Krise. Es brodelt im Land. Davon betroffen sind auch die Interessen deutscher Kapitalanleger, allen voran, die von deutschen Banken, die in der Türkei als Investoren tätig sind. Rund 7.000 deutsche Firmen sind in der Türkei in der einen oder anderen Weise aktiv. Rüstungskonzerne, wie Rhein-Metall und Heckler und Koch, profitieren von den großzügigen Exportgenehmigungen der ehemaligen und aktuellen Bundesregierung.
Am 24.06.18 finden in diesem Land vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Kritiker der amtierenden AKP-Regierung sagen, dass der türkische Präsident Recep T. Erdogan den Versuch unternimmt das Land unter seine Alleinherrschaft stellen zu wollen und unter Einsatz aller erlaubten und unerlaubten Mittel Bestrebungen hat ein fundamentalistisch-islamitisches Regime dauerhaft zu manifestieren. Die Unterstützung des türkischen Wahlkampfs in der BRD (welcher durch die Bundesregierung verboten wurde) durch u.a. von DITIB-geführten und meist aus der Türkei finanzierten Moscheen bleibt ein weiterexistierendes Problem im bestehenden demokratischen Wertesystem Deutschlands.
Zwei große Bündnisse ringen im aktuellen Wahlkampf in der Türkei um Mehrheiten. Dem Bündnis aus AKP und MHP auf der einen Seite und der CHP und Partnern auf der anderen Seite werden, nach aktuellen Umfragen, jeweils 40-45% der Wählerstimmen zugerechnet. Die HDP gehört keinem dieser Bündnisse an und versucht, nach 2015, auch in diesem Jahr deutlich über die 10%-Hürde bei den Wahlen zu kommen. Der HDP ist hierbei das Entscheidende Zünglein an der Waage. Kommt die HDP nicht in das Paralment, so werden die HDP-Sitze auf Grund des tüürkischen wahlsystems fast alle an die AKP fallen. Erdogan und seine AKP hättemn damit die absolute Mehrheit. Erdogan setzt deshalb alles daran, die HDP aus dem Paralament rauszuhalten.
Den „Flüchtlingsdeal“ zwischen der Türkei und der EU 2016 beschlossen, wonach bis zu 6 Mrd. Euro in das Land über mehrere Jahre verteilt fließen, gilt es weiter kritisch zu beobachten. Kommen diese horrenden Geldsummen bei den Geflüchteten an? Es regen sich Stimmen, dass dies nicht der Fall ist.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Türkei in Nord-Syrien (Militär-Offensive „Olivenzweig“) und die jahrelangen militärischen und repressiven Massnahmen gegen die kurdische Bevölkerung im eigenen Land werden bei den Wahlen auch eine maßgebliche Rolle spielen.
Fairplay im Wahlkampf?
In Europa leben ca. 3,5 Mio. wahlberechtigte türkische oder türkisch-stämmige BürgerInnen. Rund 1,6 Mio. davon alleine in Deutschland. Bei den letzten Wahlen in der Türkei 2015 lag die Wahlbeteiligung dieser Bevölkerungsgruppe in der EU bei ca. 38%. Beobachtern zufolge besteht hier noch Potenzial nach oben, unabhängig davon welche Partei präferiert wird. Aus diesem Umstand heraus, erhofft sich auch die HDP Vorteile beim Wählervotum 2018. Viele Oppositionspolitiker befinden sich seit dem gescheiterten Putschversuch gegen die amtierende Regierung, vermeintlich durch die Gülen-Bewegung betrieben; jedoch bis dato nicht bewiesen, in türkischer Haft oder im Exil, wie Nürsel Aydogan (PM aus dem Wahlkreis Diyarbakir). Auch der Spitzenkandidat der HDP für die Wahlen 2018, Selahattin Demirtaş, befindet sich seit 2016 in Haft. Inwieweit es gelingen wird WahlkampfbeobachterInnen in den Wahllokalen zu platzieren und wie von einigen Quellen befürchtet einer gezielten Stimmenmanipulation wirksam entgegengewirkt werden kann, bleibt derzeit offen.
Fakt ist:
Sämtliche Wahlurnen, die z.B. in Deutschland in einem türkischen Konsulat mit Stimmzetteln gefüllt wurden, werden unter limitierter Aufsicht von benannten Beobachtern an einen Flughafen begleitet. Die Auszählung der Stimmen erfolgt in der türkischen Hauptstadt Ankara. Diese Auszählung sollte dort von OECD-BeobachterInnen gewährleistet sein. Mit einem formellen Wahlergebnis ist ca. eine Woche nach dem Ende der ersten Wahlperiode zu rechnen. Besondere Aufmerksamkeit kommt den gleichzeituig laufenden Präsidentschaftswahlen zu. Der Präsident hat nämlich ab der nächsten Legislaturperiode allumfassende Macht und steht klar über dem Parlament. Bei der Volksabstimmung im April 2017 haben die Wähler mit knapper Mehrheit für die Umwandlung des seit 1920 bestehenden parlamentarischen Regierungsystems in ein Präsidialsystem gestimmt. Erreicht Erdogan nicht die absolute Mehrheit der Stimmen, so gibt es einen zweiten Wahlgang. Und auch dann wäre Demirtas von der HDP das Zünglein an der Waage. Nach den vorliegenden Prognosen wird es für die AKP/MHP und für Erdogan nicht für die absolute Mehrheit reichen. Allerdings trauen viele politische Beobachter Erdogan jede Art von Wahlfälschung zu. Ob so oder so. es wird spannend werden und die politische Eskalation in der Türkei wird wieder einmal zunehmen. Bis an den Rand eines Bürgerkrieges, befürchten nicht Wenige.
Wahlmöglichkeiten für registrierte WählerInnen bestehen in der EU im Zeitraum 07.-19.06.18. In Deutschland können in 13 Wahllokalen (mehrheitlich in türkischen Konsulaten) Wahlberechtigte ihre Stimmen abgeben.
(Kommentar und Fotos: Christian Ratz)